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"Gendern" ist Englisch.
Beitrag von If_I_was_a_Coder, am 29.03.2012
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Ich bin ja grundsätzlich kein Feind der Gleichberechtigung. Zwar musste ich schon etwas schmunzeln, als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal den Begriff "BenutzerInnenoberfläche" las, aber Sprache ist halt etwas lebendiges, damit muss man leben können.
Vor einiger Zeit entwickelte ich in unserer kleinen Software-Firma ein webbasierendes Verwaltungsprogramm für eine Bildungsorganisation. Das Projekt war überaus datenbank-lastig, zu den üblichen Studenten, Lehrern, Lehrveranstaltungen, etc. kamen noch ungefähr 30 weitere Entitäten dazu.
Nach der Grundimplementierung wurde ich höflichst von unserer Ansprechpartnerin - nennen wir sie Frau S. - aufgefordert, sämtliche Masken und Datenausgaben geschlechterneutral zu gestalten - O-Ton: "Was sind Sie für eigentlich für ein chauvinistischer Verein? Hier arbeiten ja sogar nur Männer!" (schon mal versucht, eine weibliche Programmiererin einzustellen? Viel Glück.)
Einige Wochen vergingen, ich setzte mit großer Freude die geforderten Änderungen um, bis wir zur Abschlussbesprechung des Projekts luden.
Auf der Rechnung änderten wir noch schnell den intern "Genderaufschlag" genannten Aufwand in "Designoptimierungen" um und empfingen die blendend gelaunte Frau S. - O-Ton: "Das hat aber ewig gedauert!" - in unseren Räumlichkeiten.
Während meiner Beamer-Präsentation der neuen Funktionalitäten war Frau S. wohl etwas uninteressiert und starrte unentwegt auf meine Unterlagen, die ich für eventuelle Rückfragen betreffend der Systemarchitektur vor mir ausgebreitet hatte. Etwas irritiert fuhr ich fort, bis sie mich plötzlich unterbrach:
Frau S: "Ja, das ist ja alles sehr schön, aber wie ich sehe haben Sie das System noch immer nicht ordentlich geschlechtsneutral gemacht!"
Etwas verduzt fragte ich sie, wie sie denn darauf komme, und zeigte ihr am Beamer eine beliebige Eingabemaske mit der schönen Überschrift "StudentInnen auswählen".
Plötzlich greift die Dame zu mir rüber und deutet auf einen vor mir liegenden Ausdruck: "Da, sehen Sie, da steht 'Student', das muss schon für beide Geschlechterteile (sic!) stimmen!"
Ich: "Ähm, Frau S., hierbei handelt es sich um die interne Datenbankstruktur - ein normaler Benutzer des Systems wird davon..."
Frau S: "Das heißt BenutzerIN!"
Ich: "Äh, natürlich, eine normale Benutzerin oder ein normaler Benutzer wird davon absolut nichts merken. Außerdem, wenn sie mal einen Blick auf die anderen Kästchen werfen, handelt es sich hierbei um den englischen Begriff 'Student'."
Ich deute auf die Begriffe "Lecturer", "Class" und "Place". Sie blickte zehn Sekunden wortlos auf den Ausdruck und ich sammelte Hoffnung, dass sie es jetzt begriffen hätte. Dann aber der Aufschrei: "Wie kommen Sie auf die Idee, unser System einfach auf Englisch umzusetzen?! In unserem Angebot war eindeutig die Rede von einem einfach-zu-verstehenden Programm, das jede oder jeder bedienen kann!"
Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, ihr mehrmals zu erklären, dass das wirklich nur die interne Datenbank wäre - und dass es durchaus üblich wäre, bei der Programmierung englische, "geschlechtslose" Begriffe zu verwenden. Mit dem guten Gefühl, jemanden ein bisschen Technik nähergebracht zu haben, ging ich nachhause.
Drei Tage später erreichte mich eine E-Mail von Frau S. Sie hätten gestern Abend eine dringliche Vorstandssitzung zu dem Thema gehabt, und haben beschlossen, "StudentInnen" systemweit auf "LehrveranstaltungsteilnehmerInnen" zu ändern - damit es zu keinen Verwechslungen mehr kommen kann.


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